Samstag, 20. September 2008

Der estnische Traum? Slowenien

Wenn es so etwas wie den kollektiven Traum eines Volkes gibt – wie kann man ihn beschreiben? Vielleicht am ehesten durch das, was die Vertreter dieses Volkes an anderen Völkern bewundern. Der estnische Dichter, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Jüri Talvet kehrte begeistert von einem Besuch beim Internationalen Litarturfestival Vilenica in Slowenien zurück. Über seine Eindrücke berichtet er unter der Überschrift „ Slowenien – eine wahr gewordene Utopie?“ im „Eesti Päevaleht“.


An seinem ersten Tag in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana fühlte sich Jüri Talvet an den Inselstaat „ Utopia“ von Thomas More erinnert: „Alle leben in diesem Land gut, alle sind zufrieden, tatsächlich, das Utopia von Thomas More existiert.“ Talvet ist begeistert vom schönen Ufer des Flusses Ljubljanica (Laibach), den entspannenden Menschen in den vielen Straßencafés, der gepflegten Umgebung. Nirgends vermag er ein Anzeichen von Elend zu erkennen. Obwohl die slowenische Wirtschaft rational organisiert sei, sei der Wald erhalten geblieben und mache mit 60 Prozent des Territoriums sogar anteilsmäßig mehr Platz aus als in Estland. Daß die Bevölkerungszahl Ljubljanas geringer sei als die der estnischen Hauptstadt Tallinn, Slowenien aber gleichzeitig mit zwei Millionen mehr Einwohner habe als Estland, sieht Talvet als ein Zeichen dafür an, daß die slowenische Hauptstadt nicht so eine „Disharmonie“ wie die estnische schaffe und die soziale Entwicklung „harmonischer“ verlaufe. Slowenien sei durch die geopolitische Lage zwischen Italien und Österreich begünstigt, und auch dadurch, daß die Slowenen 83 Prozent der Bevölkerung ausmachten – dies ist natürlich wieder im Vergleich zu Estland zu verstehen, wo der Anteil der nichtestnischen Bevölkerung höher liegt. Aber auch, daß es in den Grenzregionen Sloweniens möglich ist, zweisprachig (mit italienisch bzw. ungarisch) zu leben, gefällt Talvet: „In den Grenzgebieten versucht Slowenien nicht um jeden Preis, Sprache und Gesinnung des Zentrums durchzusetzen“. Schließlich habe Slowenien den guten Stand seiner Wirtschaft nicht auf Kosten der Kultur erreicht, sondern im Einklang mit dieser.

2 Kommentare:

Jens-Olaf hat gesagt…

Am Rande zweisprachig leben. Und dann kommen Ungarisch und Italienisch ins Spiel. Es geht, selbst bei so verschiedenen Sprachfamilien. Ungarisch/Slowenisch das klingt friedlich. Estnisch/Russisch und man hat wieder eine Politikdebatte am Hals.

Robert hat gesagt…

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Leserkommentare zu Talvets Artikel. Unter dem Pseudonym "Iseseisvuslane" beispielsweise gibt sich jemand große Mühe zu beweisen, daß man Estland und Slowenien nicht vergleichen könne: "Sie (die Italiener und Ungarn) haben Slowenien weder okupiert noch haben sie getötet und deportiert wie die Russen (er verwendet hier das Schimpfwort "tibla")." Leider muß in Estland immer noch viel zu oft die Vergangenheit herhalten, wenn man lieber zukunftsorientierte Formen des Miteinanders entwickeln sollte.